Wer schon länger dabei ist, weiß bereits, was ich von diesen Veranstaltungen halte, die je nach Reiselänge zwei- bis dreimal gnadenlos durchgezogen werden: Man darf sich in Schale werfen, beim Essen den Schlips bekleckern, das Jacket anschließend nicht mehr zu kriegen, der Partnerin auf die Schleppe treten, und sich ansonsten so hochnäsig wie möglich gegenüber Mitreisenden jeder Art und erst recht gegenüber dem Personal benehmen. Dazu kommt noch, dass man sich am jeweils ersten Galaabend mit Captain und Kreuzfahrtdirektor ablichten lassen kann um das Produkt dann für teures Geld zu kaufen und nie wieder anzusehen.
Wer das nicht mitmachen möchte, zieht sich an wie sonst immer, und geht in das Buffetrestaurant, denn da gibt es auch das Galaessen. Man muss es sich zwar selber holen, hat aber andererseits den Vorteil, dass kaum jemand ins Buffetrestaurant möchte und man viel Platz hat. So war das früher. Diesmal jedoch zeigte sich das Buffetrestaurant schon am ersten Galaabend ebenfalls sehr gut besucht von schön angezogenen Menschen, was mich heute nach einer Alternative suchen lässt. Und das ist ziemlich einfach: ich fülle morgens meinen Obst-Wunschzettel aus, und bekomme zum turn-down abends meinen Obstkorb auf die Kabine. Leider war der noch nicht, und ich vertreibe mir die Zeit damit, meine Videoaufnahmen der letzten Tage anzusehen. Da klopft es , die Stewardess kommt, ich gehe und setze mich im mittleren Treppenhaus auf die dort vorhandene Wartebank und beginne mich nach kurzer Zeit zu wundern. Die meisten Menschen hier stammen zwar nicht mehr ganz aus meiner Elterngeneration, sind aber sehr nah dran und vertreten ähnliche Werte: Man ist sauber und ordentlich, rücksichtsvoll, freundlich, und achtet darauf, was „die Leute“ sagen. Das ging in den Fünfzigern sogar so weit, dass man die Socken auf der Wäscheleine paarweise zum trocknen angeordnet hat, und zwar weniger, weil es praktisch ist, sondern wegen den Leuten. Ach ja, und natürlich Höflichkeit ist in dieser Generation sehr wichtig: Außer dem Chef und dem Pfarrer und dem Bürgermeister und den Nachbarn als erstes zu grüßen, hat man das auch zu tun, wenn man einen Raum betritt, in dem sich schon jemand befindet. Und so ist die Situation: ich sitze, angezogen wie immer, in einem Durchgangsraum, von dem aus zwei Aufzüge abgehen, vier Gänge zu den Kabinen, und eine Treppe. Der Raum ist gut ausgeleuchtet, und über mir befindet sich zusätzlich eine helle Deckenleuchte, man kann mich also unmöglich übersehen.
Von den ersten drei Paaren, die vorbei kommen grüßt eins. Auch das fünfte lässt sich dazu herab. Das bringt mich auf die gute Idee, meine Wartezeit auf die Kabine für eine kleine, feine empirische Erhebung über die guten, klassischen Manieren der 80+ Generation -etwas anderes gibt es hier kaum- zu nutzen. Die Eckdaten dazu: in den 30 Minuten meiner Erhebung haben mich 22 Partien (fast immer Paare, eine Gruppe, ein paar wenige Einzelpersonen) passiert. Sie kamen alle aus den Aufzügen oder Gängen, niemals über die Treppe. In der Regel wurde ich mit großen Augen angestarrt, manchmal auch ignoriert. Zu einem höflichen Gruß, und sei es auch nur ein kleines Kopfnicken, konnte sich niemand mehr durchringen. Es bleibt also bei zwei von zweiundzwanzig. Und mit solchen Menschen muss ich mir für viel Geld das Schiff teilen.
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