Stammleser kennen das schon: ist ein Tag zu lang, gibt es ein hangover. So auch heute. Wir haben also immer noch den 8. September, das Flugzeug ist - wie versprochen - dreißig Minuten früher gelandet, und nach längerem Marsch durch gut klimatisierte klimatisierte Gänge trifft sich alles wieder in der riesigen, warmen, stickigen, maximal vollgestopften Einwanderungshalle des Flughafens. Etwa ein Viertel des Platzes wird von unzähligen Kabinen eingenommen, in denen die Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde ihren Dienst tun, wie man es Ihnen beigebracht hat. Im Rest der Halle versuchen spezielle Mitarbeiter den Angekommenen die Wartezeit etwas zu verkürzen, indem man sie möglichst gleichmäßig auf die Schalter verteilt. Nach etwa einer Stunde bin ich dann dran, der Pass wird mehrfach genau kontrolliert, man macht ein Foto von mir (ohne Brille, unbedingt), alle zehn Fingerabdrücke will man haben (zum Glück wird das heutzutage nicht mehr mit Stempelfarbe gemacht), und dann das übliche Interview: warum ich da bin, wann ich wieder gehe, was ich in den USA mache, ob ich Lebensmittel einführe. Die Verständigung ist schwierig, denn er trägt eine Maske und sitzt hinter einer dicken Plexiglasscheibe. Zudem heult seit mindestens fünf Minuten eine Feuerwehrsirene und sie suchen wohl noch immer jemanden, der jemanden kennt, der vielleicht weiß wie man sie wieder ausschaltet, denn es ist ein Fehlalarm. Zum Glück darf ich jetzt weiter, zu den Kofferbändern.
Die sind riesig hier, absolut. Dafür haben sie nur vier Stück, das heißt die Koffer von mehreren Flugzeugen gleichzeitig kommen angefahren. Leider stehen daher auch die Passagiere von mehreren Flugzeugen gleichzeitig drumherum, was kleinen dicken Männern wie mir den Überblick erschwert. Als ich ankomme an Band 2 und mich schon eingestellt habe auf die Koffer- und Passagierflut von fünf Flugzeugen, werde ich angenehm überrascht: kaum Passagiere. Allerdings auch keine Koffer. Als es dann rumpelt und das Band anfährt, werde ich wieder angenehm überrascht, denn tatsächlich kommt mein Koffer, ich glaube es kaum, schon als zweiter angefahren. Verwechslung? Mein Koffer ist in dunklem Ferrarirot gehalten, mit verchromten Sportfelgen. Keine Verwechslung möglich! Ist auch meiner, und ich mache mich auf den Weg zur härtesten Instanz in New York: dem Zoll. Endlos lange Tische zur Gepäckkontrolle sind aufgestellt, ein breiter Gang dazwischen, und am Ende, ganz weit weg, zwei Türen, eine „rote“ und eine „grüne“, hier sind sie beide aus Edelstahl, sehen aus wie im Schlachthof (nein, ohne Blutspritzer) und heißen „goods to declare“ und „nothing to declare“. Und dazwischen baumelt ein handgeschriebenes Schild, dass jeden ermutigt jede der beiden Türen als Ausgang zu benutzen, egal welche. Ob sie jetzt hinter der grünen Türe sitzen und sich auf jeden stürzt, der verdächtig ist? Mitnichten. Ich stehe in der „Abholhalle“, wo man erwartet wird oder auch nicht. Ich schon, und viele andere auch, von drei jungen Mädchen in hellblauen Polohemden, die fröhlich mit „Mein-Schiff“-Tafeln winken und zu einer Kollegin weiterleiten. Die erklärt, dass man den Bustransfer-Voucher bereit halten und dem Busfahrer geben soll. Immerhin will mal jemand etwas von dem vielen Papier, das ausgedruckt werden sollte! Ein weiterer Kollege bringt uns den kurzen Weg zum Bus, und die letzte Dreiviertelstunde der Anreise beginnt. Das Schiff liegt in Bayonne, das ist von Europa aus betrachtet links von der Freiheitsstatue und ein bißchen davor, von Manhattan aus ein Stück dahinter.
Da liegt sie nun, die neue Mein Schiff 1.
Sie ist unspektakulär ein Deck höher als ihre Vorgängerin, aber gute fünfzig Meter länger, also fast ein Schiff lang (Erklärungen siehe Lanzarote-Blog). Wenn man sie vom Bug bis zum Heck abschreiten wollte ... also, zuhause, der Weg zum Bäcker, ist deutlich kürzer. Und um sie betreten zu dürfen, muss man unbedingt und auf alle Fälle neben dem Reisepass, der ausgedruckten ESTA, dem ausgedruckten kanadischen Gesundheitszeugnis, zwei negativen Corona-Tests, dem Schiffsvoucher auch noch seinen boarding-Pass dabei haben. Das ist die finale Eintrittskarte, so lange man seine Plastik-Bordkarte, die an der Kabinentür wartet, noch nicht hat. Und genau den habe ich nicht (mehr), also den boarding-pass. Ich bin sicher, dass ich ihn gedruckt habe und bin der festen Meinung, ihn eingesteckt zu haben. Aber so eine feste Meinung habe ich öfter zu den verschiedensten Themen, mit nicht allzu hoher Trefferquote.
Einen Moment lang wird mir etwas warm, vielleicht liegt es auch nur an der heftigen und schwülen Nachmittagssonne, und dann stelle ich mich zum letzten Mal an diesem Tag an einer langen Schlange an.
Eins muss man den Amerikanern lassen: vom Schlange stehen verstehen sie etwas. Und so wird auch hier mit großem Geschick und ohne Probleme die Masse der Passagiere schnell und problemlos auf die vielen Schalter verteilt, an denen man den Check-In vornehmen kann. Ich werde von einer netten kleinen Dominikanerin, die mein gutes Englisch lobt, eingecheckt. Pass ok, kanadisches Gesundheitsdings ok, Covidtest- der neuere ok weil im Testzentrum vorgenommen, der ältere war erlaubterweise ein Selbsttest, was sie gar nicht wusste, also, dass man den selbst machen durfte. Dafür gibt es auch keine schriftlichen Protokolle, aber ich hatte ihn einfach fotografiert, war ok. ESTA, Schiffsvoucher - will keiner sehen.
Aber jetzt kommt es: Der fehlende boarding pass. Nachdem auch kein Zugriff auf mein Email-Postfach möglich ist, wo er nochmal gewesen wäre, identifiziert sie mich zur Sicherheit noch einmal und macht dann lächelnd einfach einen neuen. An der nächsten Station ausdrucken lassen, alles ok.
Tatsächlich, das funktioniert. Außerdem werde ich fotografiert für die Bordkarte (diesmal mit Brille) und bekomme die Empfehlung, direkt in die Ebbe-und-Flut-Bierbar zu gehen. Auf den letzten 200m bis zum Schiff muss ich noch 3x den boarding pass und 1x den Reisepass vorzeigen, dann bin ich endlich an Bord, und gehe, wie mir geheißen, schnurstracks in die Ebbe-und-Flut Bierbar. Nein, man hat keinen Begrüßungsdrink eingeführt. Das ist die mir zugewiesene Musterstation für Notfälle, direkt unter meiner Kabine aber über 100m Fußweg, und hier findet die Seenoteinweisung statt. Aber was für eine! Musste man früher noch auf das Notsignal warten, sich dichtgedrängt in der Musterstation aufhalten und die Vorschriften anhören, sich dann in Rettungswesten quetschen und in albernem Gänsemarsch auf das Bootsdeck watscheln, in Viererreihen aufstellen und warten bis der Captain zufrieden war, bekommt man heute großzügige Zeitfenster genannt, in denen man auf seiner Musterstation zu erscheinen hat, in kleinen Gruppen das nötigste erklärt bekommt, und nach fünf Minuten wieder gehen kann. Erscheint man nach Ablauf der Zeitfenster nicht, wird man per Lautsprecher dazu aufgefordert. Das ist peinlich!
Kurz auf die Kabine, später zum Abendessen, noch später in irgendeine Bar am Heck, und dann ist die notwendige Bettschwere erreicht. Erreicht hat die Kabine inzwischen auch mein Koffer, was schön ist, denn wer möchte schon mit ungeputzten Zähnen ins Bett?
9. September. Die Nacht ist vorbei, wir sind zurück im hier und jetzt. Frühstück schenke ich mir, eine Tasse Kaffee aus der kabineneigenen Maschine (Früher Original-Nespresso, heute die Austria-Schwester Inpresso) genügt. Heute geht es früh los, denn obwohl das Schiff noch keinen Meter gefahren ist, gibt es bereits den ersten Landausflug, für den wir lustigerweise ein Schiff benutzen. „Manhattan auf eigene Faust“ heißt er, und klingt sehr gut. Alternativ zu den verstopften Straßen in ganz New York holt uns eine Fähre direkt am Schiff ab, also nicht wie Ihre jetzt denkt: Runter vom Schiff, ein paar Meter laufen, rauf auf die Fähre. Nein, sie dockt direkt am Schiff an und nützt dabei einfach eine der großen Frachtluken, durch die wir dann bequem umsteigen können.
Habe ich eigentlich schon erzählt, dass mich die ganze Situation, obwohl diese Stimmung bei mir selten ist, ganz fürchterlich ärgert? Nein? Tut sie aber, weil der Einkaufsbummel im Hard Rock Cafe, auf den ich mich seit Wochen freue, damit erledigt ist, einfach weil ich nicht wusste, wie ich dort hin komme, und jetzt, wo ich es ansatzweise weiß, reicht die Zeit nicht mehr. Aber wer mich kennt, der weiß dass ich mich nie lange ärgere, und das beste aus allem mache. Und so auch diesmal. Ich kaufe ein paar Magneten in einem kleinen fahrbaren Souvenirshop vor dem MD, genieße die Sonne und mache mich langsam auf den Rückweg. Herausforderung: nicht verlaufen. Aber ich verlaufe mich nicht, sondern finde meinen Weg mit traumwandlerischer Sicherheit zurück, vorbei an einem halben Dutzend in der letzten halben Stunde frisch gebauten U-Bahn-Stationen, bis zum Ground Zero. Dort setze ich mich entspannt auf eine Bank und beobachte die Leute. New York ist so ganz anders, als erwartet, jedenfalls in Downtown Manhattan. Viel Grün, keine Hektik, lauter gut gelaunte entspannte Menschen, und wären da nicht diese obskur hohen Wolkenkratzer, man könnte auch woanders auf der Welt sein, an einem sonnigen Tag, in einer großen Stadt mit auffällig vielen hübschen Mädchen sein, zum Beispiel in Zürich oder St. Petersburg, dem russischen, denn in den USA gibt es auch irgendwo eins.
Zurück am Fährterminal, wo viel Schiffsverkehr herrscht, bewundere ich nicht zum ersten Mal die entspannte Disziplin der Amerikaner beim Schlange stehen. Da gibt es nie Stress. Ganz anders sieht das aus, als die Fähre anlegt, die eine Horde deutscher Touristen (also auch mich) zur Mein Schiff 1 zurück bringt. Alles quillt von allen Seiten auf die enge Eingangskontrolle zu (wo man die Bordkarte vorzeigen muss), und auf die Idee sich einfach hinten anzustellen kommt keiner. Unverständlich, zumal die Fähre nicht annähernd voll sein wird, und natürlich jeder drauf passt, wir sind ja auch damit gekommen. Zugegeben, ich stehe auch nicht gerne Schlange, aber käme nie auf die Idee, mich vorzudrängen. Ganz anders eine Frau mittleren Alters, klein, leicht, die ganz kurz vor der Eingangskontrolle völlig sinnloserweise versucht, mich weg zu schieben, um vor mir auf der Fähre zu sein. So etwas muss doch nicht sein, und natürlich kriegt sie mich keinen Millimeter auf die Seite. „Der hat mich einfach abgedrängt“ höre ich sie kurz danach hinter mir keifen. Es muss hart sein, wenn man mit einer solchen Wahrnehmungsstörung leben muss.
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