Sonntag, 18. September 2022

Seeluft genießen

 Ein schöner Titel, wie ich finde, auch wenn er nicht von mir ist, sondern als Schlagzeile aus dem Tagesprogramm kommt. Heute, an unserem 6. Seetag, wo auch nicht so wirklich viel los ist. Oder doch, ich habe ja was versprochen zu erzählen. 

Also eigentlich meide ich ja größere Menschenmengen in der Regel, mit Ausnahme des jährlichen DTM-Rennens auf dem Norisring in Nürnberg, oder bei dem jährlichen "Rock-Meets-Classic"-Konzert, falls es das irgendwann mal wieder gibt. Auf einem Kreuzfahrtschiff trifft man auch viele Leute auf recht begrenztem Raum, insbesondere an Seetagen. Und auf meinen bisherigen Reisen waren viele Leute, egal auf welchem Schiff, sehr reserviert. Zugegeben, Mein Schiff, egal welches, gilt nicht gerade als Partyschiff, und das ist eigentlich auch gut so (für mich). Aber nette, lockere, aufgeschlossene Leute, die zu Lachen nicht in den Keller gehen (da würden sie auch nass, Flachwitz) mag ich sehr. Und die gibt es diesmal zuhauf. 

Von der Bierprobe am ersten Abend habe ich  ja schon erzählt, und solche Begegnungen habe ich jetzt ständig. Schön ist zum Beispiel, dass die meisten Leute das steife "sie" abgelegt haben. Man kommt an den Bars ständig ganz schnell ins Gespräch, schon allein wenn man fragt, was der andere gerade trinkt. Und selbst in dem etwas "feineren" Atlantik-Restaurant, wo viele Zweiertische stehen, die zu zweit oder dritt aufgebaut sind, und man zwangsläufig dann Tischnachbarn hat, häufig ältere, gut angezogene, kommt man beim Fünfgängemenue (wovon ich immer nur vier esse, man muss ja auf seine Figur achten) spätestens beim dritten ins Gespräch, immer. Geht gar nicht anders. Manchmal muss ich mir tatsächlich noch einen Espresso nachbestellen, weil die Unterhaltung gerade so gut ist.

Obwohl ich nicht dement bin, lerne ich hier täglich neue Leute kennen, und viele kenne ich sogar am nächsten Tag noch, manche sogar am übernächsten. Und ich kann mich kaum je an eine Aufzugfahrt erinnern, bei der nicht mit wildfremden Menschen fröhlicher Quatsch gemacht wurde. Dessen vorläufigen Höhepunkt habe heute Nachmittag erlebt.

Ich bin auf dem Weg zu einer scherzhaften (kein Druckfehler) Behandlung meiner thailändischen Lieblingsmasseurin (sie hat herausgefunden, dass ich kitzlig an den Fußsohlen bin, kitzelt mich seitdem jedesmal unauffällig absichtlich und sagt dann ganz zuckersüß "Entschuldigung"), bin wie meistens schwarz angezogen (das ist wichtig zu wissen) und besteige einen Aufzug, in dem schon ein Paar in weißen Bademänteln steht. (es gibt hier Bademäntel vom Schiff, und wer zum Pool oder Spa will, zieht sich meistens in der Kabine um, den Bademantel drüber, und geht so los). Das führt optisch zu einer gewissen Uniformität.

Nächste Etage: ein junges Paar steigt ein, auch in Bademänteln.

Nächste Etage: Noch ein Paar in Bademänteln. Jetzt kann ich nicht mehr, und sage so trocken wie möglich in die Runde: "ich habe das Gefühl, falsch angezogen zu sein!". Sofort pariert die älteste der Frauen: "Ja genau, wir gehen nämlich zu einer Hochzeit, und Sie wohl zur Beerdigung!". "Nein, ich führe die Zeremonie durch!" gebe ich zurück. Das war genug, oder vielleicht auch zu viel. Unter schallendem Gelächter kommen wir auf Deck 12 an und gehen alle in den Spa. Die Frau von gerade zur Rezeptionistin: "Wir sind die Hochzeitsgesellschaft, und das ist der Pfarrer!"

Bevor ich noch auf "Standesbeamter" korrigieren kann, antwortet diese wie aus der Pistole geschossen, saharatrocken, wahrheitsgemäß und gerade deshalb so witzig: "Nein, das ist der Herr Roy, der kriegt jetzt eine richtig kräftige Massage!"

Es ist mir schleierhaft, wie sie sich nach zweimaliger Begegnung schon meinen Namen merken konnte, aber Hauptsache alle haben Spaß. Und der geht noch weiter.

Es gibt hier an Bord einen Genussexperten, kein Witz. Er heißt Admir, kommt aus Bosnien, ist ein absolut cooler Typ mit trockenem Humor, umfassenden Wissen, egal in welcher Reihenfolge, und ist zuständig für fast alle Verkostungen. Wegen den mangelnden Deutschkenntnissen vieler seiner Kollegen, wie er sagt. Zugegeben, ich kann mir auch nicht vorstellen, wie zielführend Strudel backen auf stairisch sein soll oder gar eine Sushi-Verkostung auf japanisch, aber darum geht es auch gerade gar nicht. Vielmehr ist das heutige Thema schottischer Whisky, und nach einem leckeren Abendmenue und entsprechenden Getränken schlage ich gerade noch rechtzeitig in der Kreativküche auf. Die liegt in der großen Freiheit, hat nur manchmal geöffnet, kostet dann viel Geld und bietet einen großen, l-förmigen "Labortisch" mit einer gläsernen Platte, in der Displays eingebaut wurden, auf denen wechselnde Muster zu sehen sind. Man kann aber auch Bilder, Filme oder Kochrezepte einblenden. Heute ist es ein ständig wechselndes psychedelisches Muster, das mich schon vor dem Whisky hindert, mich zu konzentrieren. Dazu sitzt man auf Hockern, die an Unbequemlichkeit nur noch von den Barhockern übertroffen werden, die ich in meinem letzten Urlaub auf Lanzarote genießen "durfte".

Ich komme also rein, sehe mich einer gemischten Gruppe von etwas zehn Leuten gegenüber, und grüße laut und höflich. Admir ist nirgends zu sehen, und nach dem Gegengruß reitet es mich mal wieder. "Ich halte den heutigen Vortrag!" behaupte ich mit voller Ernsthaftigkeit. Stellt Euch vor: ich bin seit drei Tagen nicht rasiert, habe längere, vom Wind zerzauste Haare, trage keine Uniform oder wenigstens eine schwarze Hose mit weißem Hemd, noch nicht einmal ein Namensschild, also wirklich nichts, was mich als TUI-Cruises-Angestellten ausweisen würde oder optisch auch nur akzeptabel wäre, doch ich sehe es in den Augen der Menschen: die glauben mir! Unfassbar. Natürlich kläre ich den Scherz sofort auf, das heißt, ich versuche es, da klopft mir Admir mitten im Satz von hinten auf die Schulter und sagt: "Da bist Du ja endlich! Ich habe schon gefürchtet, ich muss das heute Abend alleine machen!". 

Ich kann nicht beurteilen, was die anderen jetzt denken, aber die Stimmung ist von Anfang an spitzenmäßig gut und locker.  Die Gruppe ist gut gemischt von whiskymäßigen Nullen wie mir bis hin zu echten Spezialisten. Einen davon würde ich sofort für einen Werbespot engagieren: langer roter Bart, lange rote Haare, sehr kräftig, gedrungen. Würde man ihm einen Kilt anziehen, wäre er der perfekte Highländer. Nur an der Sprache müsste er noch arbeiten, denn in Schottland spricht man kein sächsisch. Ich war schon dort, und bin daher ganz sicher.

Nach sechs verschiedenen Sorten Whisky sind alle unterschiedlich fertig, besonders der Admir. Der kam nämlich direkt von einer Cocktailverkostung.




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